
von FLORIAN PASTERNY
Lesezeit: 6 Minuten
Es beginnt oft mit einer Berührung. Sanft, liebevoll, voller Versprechen. Eine Umarmung, ein Blick, ein Wort, das wärmt. Es beginnt mit Hingabe, mit Vertrauen, mit der Sehnsucht nach etwas, das bleibt. Und irgendwann beginnt es, weh zu tun. Erst leise, fast unbemerkt, dann mit einer Wucht, die das eigene Ich in den Grundfesten erschüttert.
Gisela ist 48 Jahre alt. Sie hat geliebt, gehofft, verziehen. Ihr Körper trägt die Spuren eines Krieges, den niemand sehen soll. Blaue Flecken, die sie unter langen Ärmeln versteckt, Narben, die nicht nur auf der Haut brennen. Ihr Mann war einmal ihr Beschützer, ihre große Liebe. Nun ist er ihr Peiniger. Doch sie geht nicht. Nicht, weil sie nicht könnte, sondern weil etwas in ihr längst zerschlagen wurde. Der Glaube daran, dass sie es verdient, ohne Angst zu leben. Die Kraft, einen Weg zu finden. Die Vorstellung, dass hinter dem Horizont etwas anderes existiert als diese unausweichliche Dunkelheit.
Sandra ist 22 Jahre alt. Ihr Leben sollte von Leichtigkeit erfüllt sein, doch es ist schwer von Geheimnissen. Sie zählt die Ausreden, sie wechselt die Geschichten, sie lächelt, wenn ihr Körper vor Schmerz schreit. „Ich bin gestolpert“, „Das ist nur vom Sport“, „Ich bin einfach ungeschickt“. Ihre Freunde hören zu, aber sie fragen nicht mehr. Ihr Freund passt auf, dass die Schläge nur dort landen, wo Kleidung sie verbirgt. Sie weint nicht mehr, denn Tränen würden nichts ändern. Manchmal fragt sie sich, wann sie aufgehört hat, Widerstand zu leisten. Wann Angst zu Gewohnheit wurde, wann die Liebe in ihren Händen zerbrach und sie trotzdem blieb.
Doch nicht jede Geschichte endet im Schweigen. Manche Frauen kämpfen sich frei. Merle ist 38 Jahre alt. Jahrelang glaubte sie, es sei normal, dass Liebe wehtut. Dass er sie nur schlägt, weil er sie liebt. Dass sie selbst schuld sei, wenn er ausrastet. Doch eines Tages zerbrach etwas in ihr – nicht ihr Körper, nicht ihre Haut, sondern ihre Angst. Sie ging. Trotz aller Drohungen, trotz all der Stimmen, die sagten, sie übertreibe. Viele glaubten ihr nicht. Freunde, Familie, Kollegen – sie schüttelten den Kopf, weil ihr Mann doch immer so charmant gewesen war, so liebevoll in der Öffentlichkeit. Aber Merle blieb standhaft. Sie zog in ein Frauenhaus, baute sich ein neues Leben auf, Stück für Stück, mit zitternden Händen und einem geschundenen Herzen. Heute lacht sie wieder. Ein echtes Lachen. Sie liebt sich selbst, wie sie es lange nicht konnte. Sie lebt. Und sie weiß: Es war die schwerste, aber die beste Entscheidung ihres Lebens.
Es gibt viele Giselas, viele Sandras. Ihre Geschichten sind alt, sie sind neu, sie sind immer die gleichen. Und doch werden sie selten erzählt. Weil Scham schwerer wiegt als Schmerz. Weil die Abhängigkeit tiefer reicht als Vernunft. Weil die Hoffnung auf Besserung nicht stirbt, sondern immer wieder neues Leben findet, auch wenn die Beweise des Gegenteils tief ins Fleisch geschnitten sind. Die Mechanismen der Gewalt sind subtil. Sie beginnen mit Worten, mit Schuld, mit Kontrolle. Sie schleichen sich ein, bis die Frau sich selbst nicht mehr erkennt, bis ihre Gedanken nicht mehr ihr gehören. Die Angst wird zum Rhythmus, nach dem sie atmet. Und irgendwann bleibt nur noch das Schweigen.
Doch warum tun Männer so etwas? Warum verletzt jemand die Frau, die er angeblich liebt? Gewalt ist selten ein Ausbruch, eine plötzliche Wut. Sie ist ein System. Sie entsteht aus Macht und Kontrolle. Männer, die schlagen, tun es nicht, weil sie die Kontrolle verlieren, sondern weil sie sie gewinnen wollen. Sie tun es, weil sie tief in sich eine Angst tragen – die Angst, nicht genug zu sein, die Angst vor ihrer eigenen Ohnmacht. Sie ertränken ihre Unsicherheiten in Dominanz, sie zerreißen die Würde der Frau, um ihre eigene fragile Existenz zu stabilisieren.
Oft spielen Kindheitserfahrungen eine Rolle. Vielleicht sind sie selbst in einem Haus aufgewachsen, in dem Gewalt normal war. Vielleicht wurde ihnen beigebracht, dass Männlichkeit mit Härte gleichzusetzen ist. Vielleicht haben sie nie gelernt, Schwäche zu zeigen, zu reden, statt zu schlagen. Doch egal, was die Ursache ist: Es gibt keine Entschuldigung. Es ist eine Wahl. Eine Entscheidung, die sie immer wieder treffen. Eine Wahl, die das Leben einer Frau zerstört.
Warum geht sie nicht? Warum verlässt sie ihn nicht? Weil Liebe nicht nur sanft ist, sondern auch eine Fessel sein kann. Weil Angst lähmt. Weil sie nicht weiß, wohin. Weil sie keine eigene Existenz mehr hat, weil er ihr das Geld nimmt, ihr die Freunde entfremdet, ihr einredet, dass niemand sie lieben wird, dass sie nichts wert ist. Weil sie Kinder hat, die sie schützen will. Weil sie sich selbst nicht mehr traut. Weil das Versprechen, dass es besser wird, wie ein Gift ist, das süß schmeckt.
Doch es gibt Wege hinaus. Für jene, die ihre Stimme noch finden können. Für jene, die es wagen, sich aufzulehnen, auch wenn die Knie zittern. Es gibt Frauenhäuser, die Zuflucht bieten. Beratungsstellen, die zuhören. Polizei, die schützt. Es gibt das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen (08000 116 016), das rund um die Uhr erreichbar ist. Es gibt Menschen, die nicht wegsehen. Und manchmal braucht es nur eine ausgestreckte Hand, ein „Ich glaube dir“, um den ersten Schritt ins Freie zu wagen.
Nicht jede Geschichte hat ein glückliches Ende. Doch jede Geschichte verdient es, gehört zu werden. Damit keine Frau mehr in der Stille vergeht.
Florian Pasterny
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