von ATTILA TERI
„Wie lange müssen wir uns noch für den Holocaust verantwortlich fühlen? Warum wird immer noch bei jeder Gelegenheit die Nazikeule herausgeholt? Was können wir dafür, was unsere Vorfahren verbrochen haben? Irgendwann muss es mal Schluss sein!“ Was den letzten Satz betrifft, das denken wir Juden auch seit Jahrzehnten! Ja! Irgendwann muss es mal Schluss sein mit dem Antisemitismus! War die Shoah noch nicht genug?
Anscheinend nicht!
Seit dem 7. Oktober, dem Tag des Überfalls der Hamas auf Israel und die Reaktionen des jüdischen Staates, erleben wir eine Renaissance des Judenhassen in fast nie gekannter Größe – weltweit! Wie auch das Schweigen oder dessen Relativierung! „Was erwartest du von uns? Wo erlebst du denn Antisemitismus?“ Und zu guter Letzt: „Warum macht IHR das mit den Palästinensern und der „unschuldigen Zivilbevölkerung“ in Gaza?“ Fragen über Fragen, mit denen ich mich mein ganzes Leben lang auseinandersetzten muss, ob ich es will oder nicht! Und die hier sind nur eine kleine Auswahl davon, wie meine nicht jüdischen Mitmenschen darauf reagieren, wenn sie es erfahren, dass ich Jude bin und um das Thema Shoah oder Israel geht.
Ich habe es mir lange überlegt, ob ich diese Zeilen schreibe, oder einfach aufgebe, in die innere Emigration gehe und zukünftig ganz einfach schweige! Aber ich kann es nicht! Allein schon aufgrund meiner Herkunft, Familiengeschichte und Geschichte meines - des jüdischen Volkes! Denn auch wenn es für euch schwer nachvollziehbar ist, Ungarn hat mir schon als Kind beigebracht, mich nicht als Ungar zu fühlen! Für meine Freunde und Schulkameraden war ich damals schon „der Jude“! „Du bist zwar Jude, aber du bist Ok“, - war der Zaubersatz, der mir schon im Alter von 11-12 Jahren des Öfteren um die Ohren flog und gar meistens gut gemeint war. Wie heißt es so schön? „Nobody is perfect!“
Sorry fürs Abschweifen! Ich entschloss mich nun doch noch dazu, mich hinzusetzen und meine Mitmenschen mit meinen Gedanken ausgerechnet an den besinnlichen Tagen zu überfallen. Wann denn, wenn nicht jetzt? Ist Weihnachten nicht das Fest der Liebe? Abgesehen von der Tatsache, dass die Christen damit ausgerechnet der Geburt eines Juden huldigen. Allerdings ist der Hauptgrund für die „Ruhestörung“ eine Aussage meiner Frau, die KEINE Jüdin ist. Nach dem ich mich seit dem 7. Oktober immer wieder darüber beklagt habe, dass ich mich fast vollkommen allein und verlassen fühle in Deutschland und das „ohrenbetäubende Schweigen“ meiner gar eingeheirateten, deutschen Familie, der Mehrheit meiner Freunde, Bekannten und Kollegen kaum noch aushalte. Wie übrigens die Mehrheit der Juden, die (noch) in Deutschland leben. Bei meiner verzweifelten Suche nach einer Erklärung, sagte mir Katharina plötzlich: „Atti, ich bin ehrlich! Ich habe keine Ahnung, wie ich reagieren würde, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte und durch dich einen völlig anderen Blick darauf bekommen hätte, wie es den Juden geht oder wie sie sich fühlen! Es könnte sein, dass ich es auch nicht mitbekommen würde! Vielleicht wissen viele es einfach nicht und auch nicht, wie sie mit der ganzen Situation umgehen und reagieren sollten! Gebe ihnen eine Chance!“ Ich höre ziemlich oft auf meine Frau! Aus gutem Grund. Und so begann ich nach und nach bei den Menschen, die mir wirklich nahe stehen oder zumindest nicht gleichgültig sind, persönlich nachzufragen, ob sie denn in den letzten Wochen was mitbekommen hätten - entweder bei einem Treffen oder ausgiebigen Telefonat. So kamen auch die oben gesammelten Fragen teilweise zu Stande, die von vielen gar nicht mal böse oder antisemitisch gemeint sind. Sie wissen es einfach nicht besser.
Mein ältester und bester Freund in München – kein Jude, sondern Biodeutscher - mit dem ich seit über 40 Jahren befreundet bin und wir eigentlich eine Beziehung wie Brüder haben, ist in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober auch abgetaucht, bis ich ihm und einem ebenfalls langjährigen Freund, mit dem er zusammen aufgewachsen ist, eine WhatsApp Nachricht mit einem Bild von uns drei schickte: „Danke euch, dass ihr in den letzten 7 Wochen nach dem Überfall auf Israel euch um mich so rührend gekümmert habt! Das macht wahre Freunde aus! IPhone hat mich gerade daran erinnert! Schönes Wochenende!“ Daraufhin rief er mich an. Wir trafen uns für einen langen Spaziergang im zugeschneiten Englischen Garten. „Ich kannte in den 1980er-, 90-er Jahren einen anderen Atti als jetzt. Wir haben früher so gut wie nie darüber gesprochen, dass du Jude bist“! – sagte er. - „Weißt du warum? Weil es damals in Deutschland kein Thema war und wir uns hier sicher fühlen konnten!“ – antwortete ich und erzählte ihm die gleichen Geschichten, wie jetzt euch. Er hat es dann verstanden, was ich meine! Ich hoffe, ihr auch!
Meine Zeilen zu Weihnachten sollen ein Versuch sein, aufzuklären, aufzurütteln oder einfach mal euch zu bitten, an diesen Tagen in euch zu gehen, wenn ich euch nicht gleichgültig bin und euch etwas daran liegt, dass es auch zukünftig jüdisches Leben in Deutschland und der Welt gibt! Denn auch, wenn Ihr es euch nicht vorstellen könnt oder wollt, das jüdische Volk und Israel - unsere einzige wahre Heimat - kämpft 78 Jahre nach dem Ende der Shoah wieder ums blanke Überleben. Israel MUSS diesen Krieg gewinnen, egal um welchen Preis! Wenn es ihn verliert, gibt es kein Israel mehr! Es ist so, ob es euch klar ist oder nicht! Genauso ist es eine Frage, ob die Juden in der Diaspora, wie ich, langfristig in Frieden leben können. Nein, es ist keine Übertreibung! Auch ich habe schon meine ersten Morddrohungen für mein Engagement als jüdischer Journalist bekommen und zur Anzeige gebracht! Was für eine Ehre!
„Wo erlebst du denn Antisemitismus?“ – fragte mich ein alter Kollege und wirklich guter Freund vor wenigen Tagen beim gemütlichen Glühwein am Schwabinger Weihnachtsmarkt. „Es geht nur am Rande um mich, trotz Morddrohung! Es geht um das Leben von Juden in Deutschland und der Welt, das schon vor dem schlimmsten Angriff seit der Shoah, für viele von uns schwer war und zunehmend Angst macht.“ Eine ältere jüdische Freundin erzählte mir, wie sie beim Friseur wegen ihres jüdischen Namens gefragt wurde, ob sie aus Israel komme. Ja, - antwortete sie. Worauf der Friseur: „Ich hasse Netanjahu!“ Und was geht sie das an? Seit dem geht sie zu einem anderen Friseur und reserviert mit dem Vornamen ihres Sohnes, der nicht jüdisch klingt. Stellt euch Folgendes vor: Ihr geht zur Dönerbude eures Vertrauens, der Verkäufer fragt euch nach eurer Herkunft und ihr sagt, ihr seid Deutsche! Worauf er: „Ich hasse Scholz!“ Und? Was geht euch das an? Andere trauen sich nicht mehr mit jüdischen Namen ein Taxi oder Uber zu bestellen, weil sie dann entweder im wahrsten Sinne des Wortes, im Regen stehengelassen werden. Oder der „freundliche“ Fahrer mit Migrationshintergrund ihnen während der Fahrt mittteilt, dass er ihnen am liebsten die Kehle durchschneiden würde und nun zumindest schon mal wisse, wo sie wohnen! KEIN WITZ! Schwamm drüber, dass bundesweit inzwischen Juden- und Israel-Hasser Hakenkreuze oder Davidsterne an Häuser malen, wo Juden wohnen.
Viele ältere Juden und Jüdinnen trauen sich kaum noch aus dem Haus, bei Einbruch der Dunkelheit gar nicht mehr. Als ich heute bei der Dame mit dem Friseur, der Bibi hasst, vorbeischaute, um ihr nach dem Einkaufen die schweren Tüten hochzutragen, hatte sie auch ein Couvert dabei. „Mach es auf“, bat sie mich. Und was war drin? Die aktuelle Ausgabe der „Jüdischen Allgemeinen“. Die Redaktion verschickt sie nur noch verpackt, damit die Leser keine Angst haben müssen, für ihr Abonnement angegriffen zu werden! Es ist pure Ironie, dass vor wenigen Tagen die Fachzeitschrift „Medium Magazin“ ausgerechnet den Mann an ihrer Spitze, Philipp Peyman Engel als Chefredakteur des Jahres auszeichnete. Das sind nur einige Beispiele, die keinesfalls Einzelfälle sind! Mit Kippa geht eh schon seit Längerem kein Jude auf die Straße. Es sei denn, er ist lebensmüde oder auf Krawalle aus! Jüdischer Alltag in Deutschland 2023. „Wir haben es nicht gewusst“ - lautete die häufigste Ausrede der „unschuldigen Zivilbevölkerung“ in Deutschland, wenn sie nach 1945 auf die Shoah angesprochen wurde. Abgesehen davon, dass es schon damals eine Lüge war, kann das im Zeitalter der Überinformation, Internet, sozialer Medien heute niemand mehr behaupten, da man schon nach wenigen Sekunden weiß, wenn in Peking ein Sack Reis umfällt. Aber sei darum! Es kann schon sein, dass Ihr es tatsächlich nicht erfährt, wie es uns Juden hier oder Israel geht, weil ihr damit in eurem täglichen Leben nichts zu tun habt. Wie eben Katharina vor ihrer „verhängnisvollen Begegnung“ mit mir! Ich glaube, ich war der erste Jude, den sie bewusst wahrgenommen hat. Also! Shit happens! Spätestens jetzt wisst ihr es ebenfalls! Es sei denn, ihr habt mein Schreiben ungelesen gelöscht!
Damit wir uns richtig verstehen, es sollte hier kein Klagelied, wie an der Klagemauer in Jerusalem werden! Mit Nichten! So gibt es nur eine Frage, die ich beantworten möchte und die lautet: „Was erwartest du von uns?“ Ich erwarte von euch nicht, dass ihr die Helden spielt, oder mir täglich bekundet, wie lieb ihr uns Juden oder mich habt! Aber es wäre nett, wahrnehmen zu können, dass es euch gibt, ihr eure Stimmen für uns erhebt, auf Demos für Juden und Israel geht, bei den sozialen Medien auch mal ein Zeichen der Solidarität setzt und tatsächlich zeigt, dass für euch „nie wieder“ kein hohles Geschwätz ist! Wisst ihr warum? Ganz einfach! #NieWiederIstJetzt! Wenn ihr weiter wegguckt, schweigt oder es uns Juden übel nimmt, dass wir uns nicht mehr wehrlos abschlachten lassen und zu den „Ja-Aber“-Fraktion“ gehört, die es für unverhältnismäßig hält, dass Israel bis zum Ende der Hamas diesen Krieg führen will, wie die Alliierten, die 1945 bei der Belagerung Berlins auch nicht auf halben Wege aufhörten, fragt euch „nie wieder“, wie die Shoah möglich war! Sorry für die Störung! Ich wünsche euch aus tiefstem Herzen besinnliche und friedliche Tage!
Attila Teri