Unmoralisches Verhalten in Sozialberufen

von VANESSA JANKOWSKI

 

Ich war im zweiten Lehrjahr meiner Ausbildung zur Altenpflegerin. Vom Ausbildungsplan her hatte ich einen Einsatz in einem Krankenhaus. Gerontoneurologie. Man sollte ja schließlich alle Spektren kennenlernen, in denen es einem möglich war zu arbeiten. Mein Eindruck war von Anfang an nicht der beste. Das kann aber auch an der persönlichen Einstellung liegen. Ich war es gewohnt, in einem Altersheim zu arbeiten, wo man die Menschen auch über Jahre begleitet, eine gewisse Bindung zu ihnen aufbaut. Und dann war ich in diesem Krankenhaus und die Menschen waren einfach nur Nummern. Sie waren gerade da, aber sie gingen ja auch bald wieder. So die Ansicht. Einen Menschen als Nummer zu betrachten, lag nicht in meiner Realität.

 An einem Tag verstarb eine Frau auf der Station, auf der ich arbeitete. Eine der Krankenschwestern rief mich, dass ich ihr helfen solle. „Die muss in den Keller.“ Die erste schockierende Aussage für mich – vor allem in Bezug auf einen gerade verstorbenen Menschen. Sollte man nicht mehr Würde dafür haben? Ich ging also und half. Unsanft und in voller Hektik, trotz sehr ruhigem Tag, wurde die verstorbene Dame samt Bett also in den Keller gebracht. In den sogenannten ‚Kühlraum‘. Absurder ging es für mich fast nicht. Bis zum direkt folgenden Erlebnis. Der Leichnam musste auf eine Metallliege, um ihn in eines der Kühlfächer zu legen. So wurde er also unsanft vom Bett auf das kalte Metall gezogen, ohne zu schauen, ob man dem Körper noch irgendwie Schaden zufügte. Dann schoben wir die verstorbene Frau in das Kühlfach. Das alles war schon total absurd für mich, ich kannte es so eben nicht. Bei uns im Altersheim wurden die Menschen noch einmal gewaschen, schön angezogen und dann mit Blumen aufgebahrt, sodass die Angehörigen in Ruhe Abschied nehmen konnten. Und wäre das alles noch nicht genug des guten gewesen, knallte die Krankenschwester dann die Türe des Kühlfachs zu und rief laut „Klappe zu, Affe tot!“ und sie lachte. Mir war ganz und gar nicht nach lachen. Ich war so schockiert, dass ich kein Wort mehr herausbrachte und es beschäftigt mich bis heute, wie man so herzlos mit einem gerade verstorbenen Menschen umgehen kann.

 Im dritten Lehrjahr hatte ich dann meinen Praktikumseinsatz in der Psychiatrie. Ich war auf einer geschlossenen Gerontologie-Abteilung für Schizophrenie-Erkrankte. Es war ein Tag, an dem einer der Patienten sehr unruhig war. Ihm wurde mehrmals angedroht, dass er ruhig gestellt werden würde, wenn er nicht aufhöre. Ich ging mit ihm eine rauchen, unterhielt mich mit ihm und er wurde ruhiger. Ein paar Stunden später rannte er lauthals schreiend durch den Flur: „Ich muss euch töten! Er sagt, ich muss euch alle töten! Er sagt, ich muss mich töten!“. Die Oberschwester packte ihn darauf am Arm, hielt ihn fest und schrie ihn an „Wenn du jetzt nicht sofort deine Klappe hältst, dann binde ich dich ans Bett und dann kannst du bis morgen früh da festgebunden bleiben! Hast du das verstanden?“ Der Patient riss sich los, rannte in sein Zimmer und kam den Rest des Tages nicht mehr heraus. Ich stand abermals schockiert da und schien die Welt nicht mehr zu begreifen.

 

 

 

 

 

 

„Ich muss euch töten! Er sagt, ich muss euch alle töten! Er sagt, ich muss mich töten!“.


Nach meiner Ausbildung arbeitete ich dann in einem Altersheim auf einer Demenzabteilung. Jeder, der den Beruf gelernt hat, sollte wissen, was bei einem dementiell erkrankten Menschen passiert – er lebt nicht mehr in der Gegenwart. Eine Bewohnerin verfiel immer wieder in Flashbacks aus ihrer Jugendzeit – geprägt von Gewalt und Missbrauch. Wir lernen in der Altenpflege die Methode der Validation – ein Kommunikationsmodell, das genau auf Menschen mit Demenz abgestimmt ist. Jeder, der im Demenzbereich arbeitet, sollte die Validation zu 100 % beherrschen. Besagte Bewohnerin hatte nun eines Tages wieder solch einen Flashback. Sie saß auf der Bank vor dem Fahrstuhl und weinte bitterlich. Ich wollte zu ihr hin, denn ich hatte bereits herausgefunden, dass es ihr in diesen Momenten am besten hilft, wenn man sich neben sie setzt und einfach ihre Hand hält – ohne Worte. Meine Vorgesetzte, die Stationsleitung befahl mir im Schwesternzimmer zu bleiben und meinte, wir hätten jetzt anderes zu tun. Die Bewohnerin beruhigte sich selbstverständlich nicht. Wie denn auch, wenn sie nur die Möglichkeit hatte, sich immer tiefer in diese Flashbacks zu manövrieren. Anstatt, dass ich helfen durfte oder dass jemand anderes helfen durfte, ging die Stationsleitung zur Bewohnerin und schrie sie an „So, jetzt hältst du endlich einmal deine Klappe! Es ist genug!“ Welch Wunder – auch das konnte die Bewohnerin nicht beruhigen. Ich hatte die Nase voll zuzusehen, stand auf, ging zu ihr hin und saß einfach nur bei ihr. Nach 5 Minuten war ihre Welt wieder in Ordnung.

 Ich könnte noch unzählige solcher Situationen aufzählen. Situationen, die mich schockierten. Unmenschlichkeit in Sozialberufen, die ich bis heute nicht begreifen kann. Wie ist es möglich, dass in sozialen Berufen solch offensichtlich asoziale Menschen beschäftigt sein können, teilweise auch noch in leitenden Funktionen und keiner unternimmt etwas dagegen? Wie ist es möglich, dass diese Menschen sogar noch die Karriereleiter aufsteigen können, um noch mehr Verantwortung zu übernehmen, die sie offensichtlich nicht tragen können? Egozentrische Idioten ohne Empathie haben in meinen Augen nichts in einem Sozialberuf zu suchen. Und doch – es ist mir schleierhaft wie – begegnet man ihnen dort viel zu oft.

 

Vanessa Jankowski